Neueste News

Fünf Lehren aus dem britischen Anleihecrash

Marktanalyse 14.10.2022

WIRTSCHAFTSAUSBLICK

14.10.2022

Bruno Cavalier – Chief economist ODDO BHF

 

WESENTLICHE PUNKTE:

  • Der Anstieg der Zinssätze hat die verdeckten Schwächen des globalen Finanzsystems zutage treten lassen.
  • Die Notenbanken müssen ihre Geldpolitik weiter straffen, ohne jedoch die finanzielle Stabilität aufs Spiel zu setzen.
  • Die jüngste Stressphase schließt die Debatte über den Sinn oder Unsinn des britischen EU-Austritts – zugunsten der Brexit-Gegner. 

 

Innerhalb weniger Wochen hat sich die Situation im Vereinigten Königreich grundlegend geändert. Nach 70-jähriger Regentschaft ist die beliebte Königin Elisabeth II. gestorben. Indessen ist die neue britische Regierung nach nicht einmal einem Monat im Amt zum allgemeinen Gespött geworden. Ihre Steuersenkungen wurden vom IWF scharf kritisiert und von den Finanzmärkten abgestraft. In den ersten zwei Tagen nach Bekanntgabe dieses Plans stieg die Rendite der 30-jährigen Gilts um 100 Basispunkte, so dass die Bank of England gezwungen war, als Kreditgeberin der letzten Instanz zu intervenieren, um Pensionsfonds vor einer Liquiditätskrise zu bewahren. Ist diese Episode ein erstes Warnsignal, dass eine ähnliche Situation auch in anderen Ländern eintreten könnte? Oder handelt es sich um ein rein britisches Problem? Unabhängig davon, wie die Antwort auf diese Frage lautet, können die übrigen europäischen Länder einige Lehren aus den Ereignissen im Vereinigten Königreich ziehen.

Lehre Nr. 1: Nach der globalen Finanzkrise des Jahres 2008 haben die Regulierungs- und Aufsichtsbehörden erhebliche Anstrengungen unternommen (Regulierungsvorschriften, Kapitalpuffer, Stresstests), um eine vergleichbare Krise in der Zukunft zu verhindern. Trotzdem gibt es noch immer zahlreiche dunkle Flecken im globalen Finanzsystem. Pensionsfonds sind von Natur aus keine Akteure, die unvorsichtige Wetten eingehen, und der Anleihemarkt der sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt sollte eigentlich einer der sichersten und solidesten sein. Es ist daher legitim, die Fähigkeit der Aufsichtsbehörden zur richtigen Einschätzung der Marktrisiken zu hinterfragen. Was für das Vereinigte Königreich zutrifft, gilt zweifellos auch für andere Staaten, zumal sich schon jetzt Marktakteure vermehrt Alternativen wie dem dezentralen Finanzwesen zuwenden. 

 

Lehre Nr. 2: Keiner der wirtschaftlichen Akteure – weder die privaten Haushalte noch die Unternehmen oder Anleger – ist nach all den Jahren extrem niedriger Zinsen auf ein Umfeld mit anhaltend hohen Zinsen vorbereitet. Verändern sich die geldpolitischen Rahmenbedingungen zu schnell– mit dem Vereinigten Königreich als Extremfall –, kann dies Schäden im Finanzsystem und in der Realwirtschaft verursachen. Vor allem der Immobiliensektor, der besonders empfindlich auf die Kreditvergabebedingungen reagiert, könnte stark in Mitleidenschaft gezogen werden.

 

Lehre Nr. 3: Wir müssen uns mit der Geldpolitik der Notenbanken befassen. Die Bank of England wird keineswegs auf eine Straffung ihrer Geldpolitik verzichten. Ganz im Gegenteil hat sie dazu nun mehr Anlass als je zuvor, da die Regierung mit ihrer Fiskalpolitik die Inflation weiter anheizt. Dennoch ist eine Notenbank grundsätzlich immer dazu angehalten, einen Ausgleich zwischen ihrem expliziten Mandat (Gewährleistung der Preisstabilität) und ihrem impliziten Mandat (Sicherstellung der Finanzstabilität) zu finden. Die offene Frage ist, ob die aggressive geldpolitische Straffung, die gleichzeitig alle Teilen der Welt erfasst, die Märkte destabilisiert. Dies gilt ebenso für die Fed wie für die EZB. Wenn die Notenbanken für den Fall der Fälle auf den Einsatz eines ihrer Instrumente der geldpolitischen Straffung verzichten müssten, dann wäre dies mit Sicherheit eher die Reduzierung ihrer Portfolios an Vermögenswerten als die Anhebung ihrer Leitzinsen. 

 

Lehre Nr. 4: Der plötzliche Anstieg der britischen Staatsanleiherenditen ist scheinbar ein Paradebeispiel dafür, wie Staaten von den Märkten zur Disziplin gezwungen werden: Die „Bond vigilantes“ sind zu der Auffassung gelangt, dass die Ausweitung der Haushaltsdefizite langfristig nicht nachhaltig ist, und fordern daher eine deutlich höhere Risikoprämie (siehe Grafik). Eine solche Interpretation greift jedoch unserer Ansicht nach etwas zu kurz. Was vielmehr bestraft wurde, ist das Fehlen einer realistischen Einschätzung der Folgen von Fiskal-Maßnahmen. Die Anleihemärkte können durchaus höhere Defizite als Antwort auf spezifische Schocks tolerieren, wie beispielsweise die Pandemie im Jahr 2020 oder die aktuelle Energiekrise. Eine antizyklische Haushaltspolitik ist weiterhin nötig. Was allerdings in einem Hochzinsumfeld nicht (oder nicht mehr) toleriert wird, ist eine inkonsistente Politik. 

 

Lehre Nr. 5: Die Vor- und Nachteile einer EU-Mitgliedschaft sind heute klarer denn je. Im Jahr 2016 beschloss die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs in einem Referendum, aus der Europäischen Union auszutreten. Der Brexit sollte das Land von der europäischen Zwangsjacke befreien und sein Potenzial freisetzen. Die heutige Realität sieht allerdings etwas anders aus, um es vorsichtig auszudrücken. Abgesehen von einigen eingefleischten Föderalisten behauptet kaum jemand, dass die EU ein perfektes System ist. Dennoch muss man seine offenkundigen Vorteile anerkennen. Die technokratische Mühle der EU mahlt langsam, und sie verpflichtet die einzelnen Länder dazu, sich sowohl im wirtschaftlichen Bereich (Haushaltskontrolle) als auch in der politischen Sphäre (Achtung des Rechtsstaats) bestimmten Verfahren und Regeln zu unterwerfen. Jene, die sich nicht daran halten wollen, müssen mit negativen Konsequenzen rechnen, wie im Falle Griechenlands oder Ungarns. Diejenigen hingegen, die sich an die Spielregeln halten, werden belohnt: Dies ist die zugrunde liegende Philosophie der Finanzhilfen im Rahmen des europäischen Aufbauplans NGEU im Austausch gegen Strukturreformen. Bemerkenswert ist, dass zu einem Zeitpunkt, in dem sich das Vereinigte Königreich in finanziellen Turbulenzen befindet, Italien nicht dafür kritisiert wurde, dass es eine Koalition aus Euroskeptikern gewählt hat. Ohne hieraus voreilige Schlüsse für die Zukunft zu ziehen, ist dies in jedem Fall doch ein Anreiz für den Verbleib in der EU. In der Tat dürfte es so schnell kein anderes Land geben, dass den Brexiteers nacheifert. 

 

 

download.jpgLesen Sie mehr

Wichtige Hinweise

Dieses Dokument wurde von der ODDO BHF SE nur zu Informationszwecken erstellt. Darin enthaltene Äußerungen basieren auf den Markteinschätzungen und Meinungen der Autoren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Diese können sich abhängig von den jeweiligen Marktbedingungen ändern. Weder dieses Dokument noch eine in Verbindung damit gemachte Aussage stellt ein Angebot, eine Aufforderung oder eine Empfehlung zum Erwerb oder zur Veräußerung von Finanzinstrumenten dar. Etwaig dargestellte Einzelwerte dienen nur der Illustration. Einzelne Aussagen sind weder dazu geeignet noch dazu bestimmt, eine individuelle anleger- und anlagegerechte Beratung durch hierfür qualifizierte Personen zu ersetzen. Bevor in eine Anlageklasse investiert wird, wird dringend empfohlen, sich eingehend über die Risiken zu erkundigen, denen diese Anlageklassen ausgesetzt sind, insbesondere über das Risiko von Kapitalverlusten.



ODDO BHF

ODDO BHF SE · Bockenheimer Landstraße 10 · 60323 Frankfurt am Main · Postanschrift: 60302 Frankfurt am Main ·
www.oddo-bhf.com Vorstand: Philippe Oddo (Vorstandsvorsitzender) · Grégoire Charbit · Joachim Häger ·
Christophe Tadié · Benoit Claveranne . Monika Vicandi . Vorsitzender des Aufsichtsrats: Werner Taiber · Sitz: Frankfurt am Main.
Registergericht und Handelsregister Nummer: Amtsgericht Frankfurt am Main HRB 73636 USt-IdNr. DE 814 165 346 · BIC/SWIFT
BHFBDEFF500 - www.oddo-bhf.com