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Liz-Truss-Momente für die USA?

Marktanalyse 12.06.2024

Prof. Dr. Jan Viebig Global Co-CIO ODDO BHF

 

 

Wird ein Frosch in heißes Wasser geworfen, so springt er heraus. Wird er allerdings in kaltes Wasser gesetzt, das langsam erhitzt, bleibt er angeblich sitzen. Denn, so die Geschichte, die langsame Temperaturveränderung erkennt er erst als Gefahr, wenn es zu spät ist. In Wirklichkeit sind Frösche natürlich nicht so dumm – die Geschichte ist eine Parabel. Denn bei Menschen kann man sich nicht immer des Eindrucks erwehren, dass sie Risiken, die sich langsam aufbauen, zu lange zu wenig Aufmerksamkeit schenken. 

Das gilt sicherlich für die Staatsverschuldung. In den USA fand über die vergangenen Jahre eine starke Ausweitung der Staatsschulden statt. Ende 2024 dürften die US- Staatsschulden – soweit nicht von staatlichen Stellen in den USA gehalten („debt held  by the public“) – nach den Berechnungen des Congressional Budget Office (CBO) knapp unter der Marke von 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) enden. Die Bruttoverschuldung, die mit den europäischen Abgrenzungen besser vergleichbar ist, liegt nochmals rund 25 Prozentpunkte höher. 

Steigende Zinsausgaben erschweren die Konsolidierung. Das CBO setzt den Haushaltsfehlbetrag der Jahre 2025 bis 2034 mit durchschnittlich 5,6 Prozent des BIP, bis 2034 auf über 6 Prozent steigend. Die geschätzten Zinskosten erhöhen sich in diesem Zeitraum auf fast 4 Prozent des BIP.  Damit würde der Schuldenberg der USA („held by the public“) bis 2034 auf 42 Billionen US-Dollar oder rund 116% des Bruttoinlandsprodukts wachsen (siehe Abbildung 1).



  

Abbildung 1: US-Staatsschulden im Zeitverlauf

Quelle: U.S. Congressional Budget Office, Februar 2024; Prozentangaben: Verschuldung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts; 2024 und 2034: Prognosen des CBO

Das setzt aber bereits voraus, dass die US-Regierung auf neue finanzpolitische Extratouren verzichtet. Grundlage für die Schätzung des CBO ist die aktuelle Rechtslage. Allerdings hat sich in der Vergangenheit keiner der derzeitigen Favoriten im Rennen um die Präsidentschaft durch haushaltspolitische Zurückhaltung hervorgetan, und ein Wandel von Saulus zu Paulus ist nicht absehbar. Vor allem Donald Trump scheint noch draufsetzen zu wollen: Im Umfeld des Kandidaten gibt es Überlegungen, den Körperschaftsteuersatz („corporate tax rate“) von derzeit 21 Prozent auf 15 Prozent zu senken. Das wäre der Satz, den Donald Trump schon 2016/17 ins Auge gefasst hatte. Schätzungen der Tax Foundation kommen zu dem Ergebnis, dass eine entsprechende Senkung des Steuersatzes über den in den USA üblichen zehnjährigen Betrachtungszeitraum mit Einnahmeeinbußen zwischen 400 und 600 Milliarden US-Dollar verbunden wären (Quelle: Tax Foundation: A lower corporate tax rate is an opportunity worth taking as part of broader tax reform, 18 October 2023).

Nach aktueller Rechtslage werden zahlreiche steuerliche Entlastungen des Steuerentlastungspakets („Tax Cuts and Jobs Act“) der Trump-Administration von 2017 Ende 2025 auslaufen. Das betrifft insbesondere Elemente der persönlichen Einkommensteuer und die Erbschaftsteuer. Auch Präsident Joe Biden überlegt, einige Entlastungen, die unteren und mittleren Einkommensgruppen zugutekommen, permanent zu machen. Donald Trump will Entlastungen in ihrer Gesamtheit erhalten. Ein solcher Schritt würde den Schätzungen des Congressional Budget Office zufolge die Verschuldung im 10-Jahres-Zeitraum bis 2034 um 3,8 Billionen US-Dollar erhöhen (Quelle: CBO: Budgetary Outcomes under Alternative Assumptions About Spending and Revenue, May 2024).

Die entscheidende Frage – um auf unseren Frosch zurückzukommen – ist, von welchem Niveau an die Höhe der Staatsverschuldung Bürger und Anleger beunruhigen sollte. Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Doch Ende Mai erlebte der Anleihemarkt einige „Schrecksekunden“, nachdem die Auktionen von US-Staatsanleihen zwei Mal hintereinander auf nur zurückhaltende Nachfrage stießen. Die Rendite von US-Treasury Notes (10 Jahre Laufzeit) schoss zeitweise um 20 Renditestellen nach oben, von gut 4,4 auf über 4,6 Prozent. Die Lage normalisierte sich über die folgenden Tage, die Entwicklung sollte aber als Warnzeichen verstanden werden: Dass die USA beliebige Mengen Staatsanleihen geräuschlos platzieren können, muss nicht selbstverständlich bleiben. Wenn der hohe Finanzierungsbedarf und andere Störfaktoren zusammentreffen – beispielsweise, wenn die Geldpolitik restriktiver werden muss oder wenn ausländische Anleger in größerem Stil verkaufen – könnte die Lage rasch ungemütlich werden.

Diese Erfahrung mussten die Briten im Jahr 2022 machen. Im Herbst 2022 steuerten die Inflationsrate und ebenso die Defizitquote Großbritanniens auf 10 Prozent zu. In diesem Umfeld entwarfen die frisch gewählte konservative Premierministerin Liz Truss und ihr damaliger Schatzkanzler Kwasi Kwarteng den unseligen Plan für einen finanzpolitischen Big Bang nach dem Vorbild der Thatcher-Jahre. Nachdem Truss bereits eine Zusage für eine Energiepreisgarantie im Wert von rund 200 Milliarden Pfund gegeben hatte, legte ihr Finanzminister einen Nachtragshaushalt („mini budget“) mit Steuerentlastungen in Höhe von 45 Milliarden Pfund vor. Die Steuerentlastungen sollten, ganz im Sinne der Supply side-Ökonomen der 80er Jahre, vor allem von Unternehmen und Beziehern hoher Einkommen zugutekommen. Die Finanzierung sollte durch zusätzliche Schulden erfolgen.

An dieser Stelle rebellierten die Märkte. Die langfristigen Staatsanleiherenditen schossen um 2,50 Prozentpunkte nach oben, die für die Finanzen der Haushalte und den Häusermarkt wichtigen Hypothekensätze folgten hinterher. Pensionsfonds, die von der abrupten Bewegung überrascht wurden, mussten massive, teils existenzbedrohende Verluste hinnehmen. Die Lage begann sich erst zu stabilisieren, als die Bank of England intervenierte und die Regierung ihre Pläne zurückzog. Auf diesem Weg endete dann auch die Amtszeit von Liz Truss, die nach 44 Tagen als Premierministerin ihren Rücktritt erklären musste.  

Trotz ihrer historisch kurzen Amtszeit hat Liz Truss bei den Akteuren an den Anleihemärkten einen bleibenden Eindruck hinterlassen: als Beispiel für Politiker, die ihre Rechnung ohne den „Wirt“ an den Anleihemärkten machen. Noch heute sprechen die Marktteilnehmer von der „moron risk premium“ – frei übersetzt: Idioten-Aufschlag – die in den britischen Renditen eingepreist war. Die Situation in den USA ist sicherlich eine andere als die Großbritanniens im Jahr 2022. Die Verschuldungssituation ist günstiger, und die wirtschaftliche Stärke der USA und die Stellung des US-Dollar als wichtigste Anlage- und Reservewährung sprechen dafür, dass die finanzpolitischen Spielräume der USA groß sind. Die Risiken einer akuten Krise sind derzeit noch sehr gering. Aber die USA bewegen sich zügig in die falsche Richtung. Ohne korrigierende Weichenstellungen in der Finanzpolitik ist es letztlich nur eine Frage der Zeit, wann auch die USA einen Liz-Truss-Moment erleben.


 

 

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