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Perspektiven für Europa ein Jahr nach dem «Putin-Schock»

Marktanalyse 14.03.2023

WIRTSCHAFTSAUSBLICK

März 2023

Bruno Cavalier, Chefökonom ODDO BHF

 

 

Wie sähe das Wachstum in Europa heute aus, wenn Russland am 24. Februar 2022 nicht in die Ukraine einmarschiert wäre? Und wie stünde es um die Inflation? Oder um das Zinsniveau? Wir werden es nie erfahren. Eines jedoch ist offensichtlich: Dieses geopolitische Ereignis hat die Energiemärkte und in der Folge die wirtschaftlichen und finanziellen Aussichten grundlegend verändert.

Erinnern wir uns kurz an die Situation am Vorabend der Invasion.  Die letzten Corona-bedingten Mobilitätsbeschränkungen waren gerade aufgehoben worden, und bei den Ausgaben in zahlreichen Sektoren (wie z. B. Freizeit, Reisen) zeichneten sich Nachholeffekte ab. Angesichts gut gefüllter Auftragsbücher bewegte sich das Geschäftsklima auf hohem Niveau. Die Inflation beschleunigte sich seit einigen Monaten aufgrund verschiedener globaler Engpässe und der raschen Erholung nach dem Lockdown. Die EZB signalisierte ihre Absicht, die geldpolitischen Zügel wieder etwas zu straffen.

Und dann erlitt Europa einen neuen Angebotsschock, der ebenso unerwartet kam wie die Pandemie und eine vergleichbare Kettenreaktion auslöste: Wachsende Unsicherheit, Lieferkettenstörungen, Verteuerung der Produktionskosten, Erosion der Kaufkraft der Haushalte usw. Der Energiesektor war der Hauptübertragungsweg für das Übergreifen des Schocks auf die Realwirtschaft. Nahezu alles nahm dort seinen Ursprung. Als der Konflikt begann, lieferte Russland etwa 40% des in Europa verbrauchten Gases, fast ein Viertel des Öls, die Hälfte der Kohle und – nicht zu vergessen – einen erheblichen Anteil an anderen Industrie- und Agrarrohstoffen.

Wie sieht die Situation ein Jahr später aus?  Durch die Eskalation der Sanktionen und Gegensanktionen zwischen Europa und Russland hat sich die Situation in Bezug auf den Energiesektor radikal gewandelt. Die EU hat ein Verbot für den Kauf von Kohle, Rohöl und Raffinerieprodukten aus Russland verhängt. Es wurden Alternativen für russisches Gas gefunden, dessen Anteil in der Folge auf etwa 10 % gesunken ist. Darüber hinaus haben Effizienzsteigerungen und Sparanstrengungen zu einem starken Rückgang der Energienachfrage geführt. Bis zum Vollzug dieser Anpassungen schossen die Energiepreise in die Höhe und erreichten im Sommer 2022 astronomische Rekordwerte (bei Gas das Zwanzigfache des Normalwerts), bevor sie wieder zurückgingen. 

In der Eurozone machte die Handelsbilanz für Energieprodukte in den Jahren vor der Pandemie etwa 2% des BIP aus. Nun liegt sie bei 4 bzw. 5% des BIP  (siehe Grafik). Die Energiekrise hat zwei bis drei BIP-Punkte gekostet. Grund ist die Verlagerung weg von europäischen Energieressourcen. Hiervon profitieren Exportländer, wie etwa die USA oder Katar als bedeutende Produzenten von Flüssig-Erdgas  (LNG), die aus geopolitischer Sicht Russland vorzuziehen sein mögen. Die Preise sind dennoch kräftig gestiegen. Resultierend daraus mussten auch die Aussichten für Wachstum, Inflation und Geldpolitik angepasst werden. 

Nur selten lassen sich Änderungen der konjunkturellen Bedingungen auf nur einen einzigen Auslöser zurückführen. Im Falle des «Putin-Schocks» – wie auch bei der Pandemie – dürften jedoch keine Zweifel bestehen. Das Vertrauen der Haushalte und Unternehmen schwand in dem Moment, in dem die Energiepreise stiegen und sich die Gefahr einer Verknappung über den Winter abzeichnete. Dieses Extremszenario ist nicht eingetreten. Die Stimmungsindizes haben sich daher in den letzten Monaten erholt, bleiben aber weiterhin auf einem niedrigen Niveau. Europa entging einer schweren Rezession, stattdessen setzte jedoch Ende 2022 eine Quasi-Stagnation ein. Einige Sektoren, die energieintensiver sind als andere, befinden sich in einer tiefen Krise, die einen Anstieg der Insolvenzen befürchten lässt.  Insgesamt wurden die Wachstumsaussichten in der Eurozone innerhalb eines Jahres um etwa zwei Prozentpunkte gesenkt, in Deutschland sogar um drei Prozentpunkte, da das Land aufgrund seines Energiemixes und der zentralen Rolle seiner Industrie dem Schock stärker ausgesetzt ist. 

Zudem hat sich die Lage an der Inflationsfront nicht stabilisiert. Im letzten Jahr haben die meisten europäischen Regierungen Subventionen oder Preisobergrenzen eingeführt, um die Auswirkungen auf Privathaushalte abzumildern. Dieser «Schutzschild» ist jedoch nur von begrenzter Dauer. Mittlerweile hat sich die Energiekrise zwar abgeschwächt, doch der Schock breitet sich weiterhin auf andere Ausgaben aus – von Lebensmitteln bis hin zu Transportdienstleistungen. Dies schürt die Forderungen nach höheren Löhnen und birgt das Risiko, dass die Preisspannungen länger anhalten. Seit einem Jahr werden die inflationären Auswirkungen des Krieges in der Ukraine immer wieder nach oben korrigiert. Anfang 2022, als die Inflation in der Eurozone bei rund 5% lag, hätte niemand vorhergesehen, dass sie sich innerhalb weniger Monate verdoppeln würde. Seit einem Höchststand von 10,7% im Oktober 2022 ist die Inflation zurückgegangen (8,5% im Februar), doch der Rückgang ist zu langsam und gering, um die EZB zufrieden zu stellen. 

Zwar zeichnete sich bereits vor der Invasion in der Ukraine ein Kurswechsel der EZB hin zu einer restriktiveren Gangart ab, doch es war schwer vorstellbar, dass dies ein solches Ausmaß annehmen würde. Seit Juli 2022 wurde der Leitzins um 350 Basispunkte angehoben. Dies markiert einen Regimewechsel nach acht Jahren Negativzinsphase. Nichts deutet auf eine kurzfristige Pause hin, denn die steigenden Zinsen konnten die Inflation nicht bremsen – zumindest noch nicht. Die Kreditbedingungen werden jedoch immer restriktiver, was sich zwangsläufig auf Investitionen und Bauvorhaben auswirken muss. Die EZB zieht eine zu starke Straffung einer zu geringen vor, auch wenn dies das Risiko einer Fehlkalibrierung der Geldpolitik bedeuten könnte.

 


 

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