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„Denk ich an Deutschland in der Nacht“: Rezessionssorgen und Gasembargo

Marktanalyse 11.04.2022

Market View

11.04.2022

 

Prof. Dr. Jan Viebig – Global Co-CIO ODDO BHF  


WESENTLICHE PUNKTE:


  • Als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine und die gestiegene Unsicherheit haben der deutsche Sachverständigenrat und die  führenden Forschungsinstitute ihre Wachstumsprognosen für Deutschland  bereits deutlich gesenkt. Der Sachverständigenrat erwartet, dass die deutsche Wirtschaft im Jahr 2022 nur magere 1,8% wächst.
  • In einer ersten Studie schätzen prominente deutsche Volkswirte, dass ein Gasembargo zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von 0,5% bis 3% in Deutschland führen wird. Tatsächlich könnten die Wachstumseinbußen aber noch deutlich höher sein.
  • Ein Lieferstopp von russischem Gas würde nicht nur zu Rationierungen von Energie und Produktionsausfällen, sondern auch zu einem erheblichen Nachfrageschock führen. Käme es zu einem Gasembargo in Deutschland, dann würden wir das Risiko in unseren Portfolios weiter senken. 

Die jüngsten volkswirtschaftlichen Daten aus Deutschland sind wenig ermutigend. Die Graphik 1 zeigt, dass die großen deutschen Forschungsinstitute und der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ihre Wachstumserwartungen für das Jahr 2022 in Deutschland zuletzt deutlich nach unten revidiert haben. Der völkerrechtswidrige Überfall Russlands auf die Ukraine und die daraus resultierende Unsicherheit sind die zentralen Gründe, dass der deutsche Sachverständigenrat nun nur noch ein Wachstum von mageren 1,8% für das Jahr 2022 in der größten Volkswirtschaft der Eurozone ausgeht. 

 

 

Viel beachtete Frühindikatoren wie der ZEW-Indikator und der Ifo-Geschäftsklimaindex deuten darauf hin, dass sich die konjunkturelle Lage in Deutschland weiter verschlechtern könnte. Die ZEW-Konjunkturerwartungen sind im März 2022 so stark wie noch nie seit Beginn der Umfrage im Dezember 1991 gefallen.  Und auch der ifo-Geschäftsklimaindex, der die Stimmung in der deutschen Wirtschaft misst, ist im März 2022 stärker eingebrochen als beim Ausbruch der Corona-Pandemie vor zwei Jahren. Gleichzeitig hat Eurostat gemeldet, dass die Inflation in Deutschland im März 2022 auf 7,6% gestiegen ist, ein Niveau, dass wir seit den 1980er Jahren nicht mehr erlebt haben. 

Vor diesem Hintergrund streiten in Deutschland Ökonomen darüber, welche Auswirkungen ein Lieferstopp für russische Energieimporte für die deutsche Wirtschaft haben könne. Bachmann et al. (2022) erwarten, dass ein Stopp russischer Energieimporte einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes in Höhe von nur 0,5% bis 3% verursachen würde. Die Studie der neun Ökonomen, hat Aufsehen erregt. Bundeskanzler Olaf Scholz hat – in der bekannten Talkshow von Anne Will auf die Studie angesprochen – dieselbe scharf kritisiert. Der Bundeskanzler und seine Minister für Wirtschaft und Finanzen – Robert Habeck und Christian Lindner – halten schwerwiegende Folgen für die deutsche Wirtschaft für möglich, wenn es kurzfristig zu einem Lieferstopp für russisches Gas käme. 

Und in der Tat, Deutschland muss infolge des Ukraine-Konfliktes gleich zwei 180-Grad Kehrtwenden vollziehen. In der Außen- und Sicherheitspolitik hat Bundeskanzler Scholz jüngst Investitionen in Höhe von 100 Mrd. EUR in die Bundeswehr angekündigt und in Abkehr von früheren Positionen Waffenlieferungen in die Ukraine zugestimmt. Und in der Energiepolitik gilt es nun, die selbstverschuldete Abhängigkeit von Russland zu reduzieren. Deutschland bezog 55% des Erdgases im Jahr 2020 sowie 34% des Öls und 26% der Kohle im Jahr 2021 aus Russland. 

Aber wer hat nun recht, die neun Ökonomen, die einen kurzfristigen Stopp der russischen Erdgaslieferungen für „handhabbar“ halten oder die politischen Entscheidungsträger, die vor starken Wirtschaftseinbußen infolge eines Gasembargos warnen? Die Studie von Bachmann et al. (2022) ist grundsätzlich zu begrüßen, da sie detailliert die Handelsbeziehungen vieler Länder und die Input-Output-Struktur auf Sektorenebene bei der Schätzung der Auswirkungen eines Gasembargos für die deutsche Wirtschaft berücksichtigt. Die Autoren verzichten allerdings darauf, in der zentralen Tabelle, die die Ergebnisse der Studie zusammenfasst, trotz der hohen Unsicherheit den Fehler ihrer Schätzungen und damit die hohe Prognoseungenauigkeit ihrer Studie auszuweisen. 

Fraglich ist zudem, ob das Modell wirklich eine realitätsnahe Annäherung an die Wirklichkeit erlaubt. In Deutschland ist die Industrie ein bedeutender Abnehmer von Erdgas, das zur Herstellung chemischer Erzeugnisse, Metallen, Glas, Papier, Nahrungsmitteln und zahlreichen anderen Produkten verwendet wird. Martin Brudermüller, der CEO von BASF, glaubt wie der CEO von E.ON, Leonhard Birnbaum, dass das russische Gas nur über einen längeren Zeitraum von mehreren Jahren ersetzbar sei. Zudem könnte am größten Standort von BASF in Ludwigshafen eine Reduzierung oder Einstellung der Produktion nicht ausgeschlossen werden, wenn das russische Gas ausbliebe. Die Produkte der chemischen Industrie gehen als Vorprodukte in die Herstellung von Kunststoffen, Klebstoffen, pharmazeutischen Produkten und in viele andere Güter ein, die oftmals wieder Vorprodukte einer eng verzahnten Wertschöpfungskette sind. Daher warnen zahlreiche Unternehmen vor einem Zusammenbruch ganzer Lieferketten infolge eines Gasembargos. Es ist auffallend, dass die Warnungen der Experten in der Wirtschaft und Politik deutlich düsterer ausfallen als die Modellüberlegungen von Bachmann et al. (2022). Unter Federführung der Bundesnetzagentur überlegen sich Politik und Wirtschaft derzeit, welche Unternehmen im Notfall vom Netz genommen werden müssten, wenn Russland kein Erdgas mehr liefert. Ende März 2022 hat Wirtschaftsminister Habeck die Frühwarnstufe des „Notfallplans Gas“ aktiviert. 

Zudem unterschätzen Bachmann et al. (2022) die Wirkungszusammenhänge eines Angebotsschocks. Steigende Rohstoffpreise für Erdgas, Öl und Kohle können zu einem sprunghaften Anstieg der Inflation führen. Der Anstieg der Inflation wirkt wiederum wie eine „Ölsteuer“: Wer mehr an der Zapfsäule ausgibt, hat weniger Geld für den Kauf anderer Güter und Dienstleistungen verfügbar.

Die hohe Inflation führt zudem zu steigenden Zinsen und damit zu niedrigeren Investitionen und einer Wachstumsverlangsamung. Infolge eines Angebotsschocks steigt ferner die Unsicherheit in der Wirtschaft, beispielsweise infolge stark steigender Inputkosten, Lieferkettenproblemen, Kreditausfällen oder gar einer Lohn-Preis-Spirale. Bachmann et al. (2022) gehen wenig realitätsnah davon aus, dass Nachfrageeffekte vollständig durch staatliches Handeln kompensiert werden und Zweitrundeneffekte ausbleiben. Realistische Szenarioanalysen, wie sich ein sprunghafter Anstieg der Preise auf das Nachfrageverhalten auswirken könnte, unterbleiben. Dennoch sind die politischen Entscheidungsträger gut beraten, sich alle Handlungsoptionen offenzuhalten. Denn selbst sehr hohe Wachstumseinbußen können schnell an Bedeutung verlieren, wenn sich die Politiker erhoffen, dass ein Gasembargo zu einem schnelleren Ende des Krieges beitragen kann, der so viel menschliches Leid und Elend in der Ukraine verursacht.

Es ist immer gut, in Szenarien zu denken. Bisher halten wir aufgrund der oben dargestellten Prognosen der Forschungsinstitute und des Sachverständigenrats allenfalls eine kurze technische Rezession in Deutschland für wahrscheinlich, wenn ein Lieferstopp für russische Energie ausbleibt. Mit einem Lieferstopp von Energie aus Russland könnten Rationierungen, Produktionsausfälle, Lieferkettenprobleme, sprunghaft steigende Energiepreise und eine sinkende Nachfrage aber nicht mehr ausgeschlossen werden. Ein kurzfristiger Lieferstopp russischer Energie würde vermutlich zu einer längeren Rezession und deutlich höheren Arbeitslosenzahlen in Deutschland führen. Ein solches Szenario würde uns veranlassen, bei unseren Investitionsentscheidungen deutlich vorsichtiger zu werden. Ein Friedensschluss in der Ukraine – auf den wir alle für die Menschen in der Ukraine so sehr hoffen – würde uns hingegen auch bei unseren Anlageentscheidungen optimistischer werden lassen. Die Unsicherheit bleibt angesichts der gestiegenen Rezessionsrisiken und der Möglichkeit eines Gasembargos hoch.


Quellen:

1./ Bachmann, Rüdiger et al. (2022): What if? The Economic Effects for Germany of a Stop of Energy Imports from Russia, ECONtribute Policy Brief No. 028. 2./ Blinder Alan S. / Rudd, Jeremy B. (2008): The Supply-Shock Explanation of the Great Stagflation Revisited, NBER Working Paper 14563 3./ Hans Böckler Stiftung (2022): Ökonomen warnen vor Wirtschaftskrise, Ausgabe 05/2022.  4./ Krebs, Thomas (2022): Wie man die Auswirkungen eines Gasembargos nicht berechnen sollte, Makronom, 30. März 2022. 5./ Leopoldina, Nationale Akademie der Wissenschaften (2022): Wie sich russisches Erdgas in der deutschen und europäischen Energieversorgung ersetzen lässt, Ad-hoc-Stellungnahme vom 8. März 2022.


 

 

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